Warum beim Sprachenlernen mehr (Wiederholung) mehr ist

Warum beim Sprachenlernen mehr (Wiederholung) mehr ist
Nicht nur im kompletten Selbststudium, auch in Begleitung eines Sprachkurses werden Lektionstexte im Lehrbuch, die dazugehörigen Vokabellisten und Grammatik-Abschnitte, die man als Hausaufgabe „vorbereiten“ soll, oft recht strategielos angegangen und können damit nicht den gewünschten Lerneffekt bringen. Im vorherigen Artikel beschrieb ich dir das übliche Vorgehen vieler Lerner und erklärte dir auch, dass es aufgrund mangelnder Wiederholungen oft nicht nachhaltig ist, sich das Gelernte also nicht ausreichend tief ins Gehirn setzen kann.
Inspiriert von einer Liste aus einem norwegischen Lehrwerk, die ich super finde, zeige ich dir hier etwas angepasst einen möglichen Ablauf zum Neu-Bearbeiten einer Lern-Lektion, so dass sie wirklich „wirkt“ und du profitierst:
1. Hör den Lektionstext ohne ihn zu lesen. Was verstehst du schon? Hör ihn mehrmals, bis du das Gefühl hast, den Großteil zu verstehen. Versuche, das Gehörte mündlich zusammenzufassen, laut vor dich hin. Dass du dabei Fehler machst, die dir niemand korrigiert, ist ohne Sprachkurs natürlich klar, aber es geht erstmal ums Tun: Hören und Sprechen.
2. Lies den Text nun, wenn du magst zusätzlich mit dem Audio, aber ohne Wörterverzeichnis und Nachschlagen. Was verstehst du schon? Kannst du neue Ausdrücke vielleicht aus dem Zusammenhang schließen? Oft ist die genaue Übersetzung überhaupt nicht nötig fürs Verständnis; es genügt, zu erkennen, um was es sich generell handeln muss: Dieses Wort muss etwas Positives beschreiben, damit der Satz/die Geschichte logisch weitergeht. Dieses Wort muss etwas zu Essen beschreiben. Dieses Wort könnte irgend etwas mit Bewegung, Fahren, Reisen zu tun haben. Dieses Wort könnte vielleicht ein Schimpfwort oder Ähnliches sein. Dieses Wort bezieht sich in irgend einer Weise auf schlechte Stimmung oder Unzufriedenheit. Und so weiter. Mit diesen Überlegungen wird dir der Text viel zugänglicher.
3. Lies den Text mit diesem Verständnis erneut und schreibe unbekannte Wörter und Wendungen auf, gern per Hand mit Stift und Papier (= größerer Lerneffekt). Schlage dann diese Wörter gezielt nach und füge sie in deine zukünftige Vokabellern-Routine ein.
4. Wiederhole diese neuen Ausdrücke. Lies sie dir laut vor, sing sie dir vor, bilde neue Sätze mit ihnen, schreib sie immer wieder neu auf.
a. Erster Tipp: Lerne Vokabeln nie als einzelne Wörter, sondern immer als zusammengesetzte Ausdrücke, Satzabschnitte oder kurze Sätze. Denn ein Wort hat nie nur eine einzige Übersetzung, sondern je nach Zusammenhang unterschiedliche Bedeutungen. Diese lernst du am einfachsten in genau dem Zusammenhang.
b. Zweiter Tipp: Suche anstatt einer bloßen Übersetzung eine Beschreibung oder Erklärung in der Lernsprache, so als ob du es jemandem beim „Tabu“-Spielen beschreiben müsstest.
5. Hör dir den Text noch einmal an und lies dabei laut mit. Lies anschließend mehrmals alleine laut. Leise lesen führt zu nichts, zum Sprachenlernen musst du nämlich sprechen (verrücktes Konzept, hm?). Zur weiteren Verbesserung der Aussprache erkläre ich die Shadowing-Methode in diesem folgenden Artikel genauer. Probier sie mal aus!
6. Danach wendest du dich der Grammatik zu. Lies dir zuerst alle neuen Regeln und Anwendungsbeispiele durch. Notiere dir Unklarheiten und checke in einem Grammatikbuch gegen. Vielleicht findest du dort ausführlichere oder verständlichere Beschreibungen. Dennoch gilt auch hier: Reines Durchlesen und sogar Durchlesen-und-Verstehen genügt nicht, um es wirklich zu verinnerlichen.
7. Nimm dir nochmal auf den Lektionstext vor und suche dort die Stellen, an denen die neue Grammatik auftritt. Kannst du die Verwendung an allen Stellen nachvollziehen? Lerne die betreffenden Sätze nochmal besonders gut (z. B. als Vokabeln).
8. Übungsaufgaben sind meiner Meinung nach unabdingbar, aber leider, wie gesagt, meistens Mangelware. Schau mal, ob du irgendwo mehr Übungsbücher bekommst, vielleicht gebrauchte Lehrbücher oder Ähnliches, in denen du weitere Seiten ausfüllen kannst, oder ob es Websites oder Lernplattformen gibt, die so etwas anbieten. Wieder: Mehr ist mehr, Training, Dranbleiben und Durchhalten sind die Devise – bis sich die korrekte Anwendung absolut verinnerlicht hat.
9. Stell dir vor, jemand möchte die Sprache von dir lernen: Wie würdest du ihm die neuen Grammatikregeln dieses Kapitels erklären? Kannst du ihm vielleicht sogar die Grammatik mit eigenen Worten viel einfacher und verständlicher zusammenfassen als das Lehrbuch? Wir lernen nämlich besonders gut und nachhaltig davon, das Gelernte anderen beizubringen. Formuliere deine eigenen Grammatikregeln für dieses Kapitel – gern schriftlich, bunt, mit Pfeilen und Schaubildern und meinetwegen Washi Tape, so, dass es ansprechend und logisch nachvollziehbar für dich ist, wenn du das nächste Mal reinschaust (oder es der anderen Person zeigst, die von dir lernen möchte). So hast du am Ende des Lehrbuchs ein eigenes kleines Grammatikbuch zum Immer-wieder-Spicken.
10. Formuliere nun einige eigene inhaltliche Fragen zum Text, so wie es ein Lehrer machen würde, um das Textverständnis zu überprüfen, und beantworte sie umfassend, schriftlich oder mündlich (laut ausgesprochen natürlich!). Stelle die Fragen so, dass die Antwort nicht 1:1 aus dem Text ablesbar ist, sondern ein neuer Satz dafür formuliert werden muss (d. h. wenn im Text steht „Das Wetter war schön“, sollte deine Frage bestenfalls nicht lauten „Wie war das Wetter?“).
11. Notiere den Inhalt des Textes in knappen Stichpunkten. Benutze danach nur diese Stichpunkte – nicht den eigentlichen Text -, um eine richtige Zusammenfassung zu schreiben.
→ zu 10. und 11.: Konstruiere deine Fragen und Sätze so, dass sie so viele der frisch gelernten Ausdrücke und der neuen Grammatik enthalten, wie möglich. Es geht um Adjektive? Wirf damit um dich in deinen Formulierungen. Es wird eine neue Zeitform eingeführt? Schreibe die Fragen/den Text in dieser Zeitform. Es wird indirekte Rede eingeführt? Baue so viel wie möglich davon ein.
12. Zusätzlich kannst du mit den Stichpunkten auch eine mündliche Zusammenfassung machen – erzähl dir selbst oder einem Lernpartner ausführlich, wovon der Text handelt, ohne ins Buch zu schauen. Worin unterscheidet sich diese von deiner Erzählung aus Punkt 1.? Welche Aspekte hast du jetzt eingebaut, die du am Anfang noch nicht verstanden hattest? Zähle sie auf – in der Lernsprache, versteht sich.
13. Kannst du nun den Text durch alleiniges Anhören verstehen, ohne ins Buch zu schauen? Diese Überprüfung kannst du am besten mit Abstand eine Weile nach der Kapitel-Bearbeitung machen, z. B. wenn du im Buch drei Lektionen weiter bist. Spring nochmal zurück, lausche und versuche, wieder alles zu verstehen.
Dies sind lediglich Vorschläge, wie du dich mit neuen Inhalten vertraut machen kannst – du nimmst neue Wörter, neue Satzstrukturen, neue Grammatik-Phänomene, neues Wissen mit. Durch die intensive Beschäftigung mit all diesen Dingen und die permanente Wiederholung speicherst du sie besonders gut ab. Wir können nicht „Arthur est un perroquet“ aus unserem Französischbuch heute noch runterbeten, weil wir das einmal gelesen und übersetzt haben, sondern weil wir diese Lektion in unseren ersten drei Wochen Franze jeden verdammten Tag immer wieder durchgenommen haben.
Du musst natürlich nicht für jeden Text, der in deinem Lehrbuch auftaucht, alle obigen Punkte durchgehen, aber es ist hilfreich, einiges davon abzuarbeiten. Auch muss das keinesfalls in einer Sitzung geschehen, sondern sollte sich sogar über mehrere Tage strecken. Zu lange Lerneinheiten sind ermüdend und wenig zielführend, wenn die Konzentration nachlässt. Kurze Einheiten von 10-20 Minuten sind super, 30 tun ab und an auch nicht weh, und am liebsten häufig, gern jeden oder mindestens jeden zweiten Tag.
Auch, wenn es durch das intensive Beschäftigen mit ein und demselben Kapitel zunächst so scheinen mag, als kämst du nicht voran, so wirst du nach hinten raus bemerken, wie gründlich du gelernt hast, wo andere, die vermeintlich „schneller“ waren, schon wieder alles vom Anfang vergessen haben und erneut mühsam reinhämmern müssen.
Du siehst, das ist vermutlich viel mehr Arbeit, als du bislang in dein Selbststudium gesteckt hast, oder? Aber Lernen ist nun mal Arbeit, und die lohnt sich! Viel Erfolg!

