Warum die Angabe „fließend“ für Sprachkenntnisse völlig ungeeignet ist

Lerntipps und Selbststudium
Veröffentlicht am
December 10, 2025
December 10, 2025

Warum die Angabe „fließend“für Sprachkenntnisse völlig ungeeignet ist

Wenn ich überlege, wie lange ich gebraucht habe, um „fließend“ Norwegisch zu sprechen, habe ich darauf tatsächlich unterschiedliche Antworten. Ein Jahr? Drei Jahre? Zehn Jahre?

In den Sozialen Medien wird sich am laufenden Band unterboten, in wie kurzer Zeit man es angeblich geschafft hat, die Sprache des neuen Landes fließend zu beherrschen. Dabei haben solche Beiträge keinerlei Aussagekraft. Erstens ist die Ausgangs- und Lernsituation jedes Menschen völlig unterschiedlich. Zweitens kann man hier alles behaupten, ohne dass es stimmen muss. Drittens: Was bedeutet „fließend“ denn nun???

Guck mit mir meine Laufbahn an – nicht, dass die sonderlich repräsentativ wäre, aber sie verdeutlicht, wie verschieden man Sprachfähigkeiten bewerten kann:

Wie ich zu Norwegisch kam

2004 habe ich im Rahmen meines frisch gestarteten Studiums begonnen, Norwegisch zu lernen. Nebenbei hatte ich noch ein Dutzend weitere Kurse zu belegen, mich überhaupt erstmal in der neuen Stadt mit der neuen Situation zu orientieren, eine Wohnung zu suchen, tausend Menschen kennen zu lernen und und und – Norwegisch war also keineswegs mein Fokus, und die Bedingungen waren denkbar schlecht für ein schnelles und effizientes Lernen. Ich saß da einfach zweimal 90 min. in der Woche im Kurs, mehr nicht.

Nach mehreren Monaten begannen wir, uns außerhalb des Kurses zum Norwegischsprechen bei einem Stammtisch zu treffen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht den Eindruck, mich in irgendwelche spannenden Unterhaltungen einbringen zu können, da ich gefühlt kaum was konnte. Aber nach ein paar Bier und in einer wertschätzenden und lockeren Runde ging es dann doch nach und nach. Wahrscheinlich habe ich so nach einem Jahr mein erstes Gespräch auf Norwegisch geführt, das über „Hallo, wie heißt du?“ hinaus ging, ohne mich völlig doof zu fühlen.

War das schon fließend: „Ich kann Gespräche führen ohne zu verzweifeln“?

Wie ich mein Norwegisch vertieft habe

Wir intensivierten im Freundeskreis den Stammtisch und schrieben auch private E-Mails, SMS und Chats (wer kennt noch ICQ?) ab da auf Norwegisch. Weiter besuchte ich natürlich alle normalen Sprachkurse und auch die mit Themenschwerpunkten wie Übersetzung oder Landes-/Kulturkunde auf Norwegisch. Die Sprech-Hürde fiel beizeiten komplett, so dass ich nach drei Jahren, als ich in mein Auslandssemester nach Trondheim startete, keinerlei Probleme hatte, mich in Norwegen zu verständigen. Ich brabbelte munter drauf los und wurde von den Norwegern verstanden (dass ich sie hingegen nicht verstanden habe, weil mein Dialekt-Hörverständnis einige Jahre hinterherhinkte, steht auf einem anderen Blatt).

Im Nachhinein weiß ich, dass das grammatisch eine kleine Katastrophe war, weil ich den Hauptteil meiner Sprachfertigkeiten durch den privaten Schnack mit meinen Freunden erworben hatte, nicht durch gezieltes Lernen und Grammatikübungen. Regeln des Norwegischen kannte ich kaum und sprach, wie ich glaubte, es mal irgendwo gehört zu haben. Ich halte mich durchaus für nicht unbegabt bei Sprachen, aber in Erwachsenengehirnen funktioniert das „learning by doing/imitating“ nur in seeehr geringem Maße. Mein Gehirn ist offensichtlich erwachsen.

Also, war das dann fließend: „Ich fühle mich in so gut wie allen Themengebieten (Alltag, Uni/Wissenschaft) ‚verhandlungssicher‘, meine Sprache ist aber alles andere als korrekt“?

Wie ich dann das „richtige“ Norwegisch lernte

Obwohl ich in Norwegen den C1/C2-Kurs abschloss, wirklich viel dort lernte und zahlreiche vorherige Fehler korrigieren konnte, würde ich aus heutiger Sicht immer noch nicht sagen, dass ich danach völlig korrekt sprach. Als ich 2011 meinen ersten Norwegischunterricht gab, fiel mir auf, wie viel ich von der Grammatik zwar wusste, aber nicht erklären konnte. Und da fing ich an, mich richtig dort hinein zu vertiefen und zu dem ultimativen Grammarnerd zu werden, der ich heute bin.

Als ich mich 2014 selbstständig machte, hatte ich gut aufgeholt und so ziemlich alles ausgebessert, was ging (obwohl man natürlich nie auslernt). Ohne ein profundes Grammatikrepertoire hätte ich mir die Selbstständigkeit im Bereich Norwegisch auch nicht zugetraut. Heute kenne ich wahrscheinlich um vier Uhr nachts aus dem Tiefschlaf raus so ziemlich alle Antworten auf norwegische Grammatikfragen.

Ist das letztlich erst als fließend zu bezeichnen: „Ich spreche so souverän und weitgehend fehlerfrei, dass ich mich damit selbstständig machen konnte“?

Wie kann man seine Sprachkenntnisse sinnvoll bewerten?

– Nach einem Jahr habe ich fließend eine kleine Alltags-Unterhaltung geführt.

– Nach drei Jahren habe ich fließend über alle denkbaren Themen referieren können, auch und besonders im Wissenschaftskontext, aber nicht fehlerfrei.

– Nach zehn Jahren hatte ich fließend die Grammatik im Griff.

Interpretier es, wie du willst; die Antwort ist nicht eindeutig. Was aber mehr als eindeutig ist, ist die Tatsache, dass allein durch die Berieselung mit einer Sprache von allen Seiten sowie das Zuhören und Nachsprechen im Alltag keine Glanzleistung erzielt werden kann. Es mag einzelne Supertalente geben, die das schaffen, aber die Mehrheit schafft es nicht. Jede Sprache außer der Muttersprache muss aktiv gelernt werden. Da ich das neben zahlreichen anderen Uni-Dingen tun musste und insgesamt wenig Zeit in der Woche darauf verwenden konnte, war ich natürlich langsamer als all die krassen Überflieger in den Facebookgruppen. ;-)

Warum du dich nicht stressen lassen darfst

Apropos – bevor du dir dort schlecht vorkommst, weil du weniger schnelle Fortschritte machst: Es antworten ungefähr drei Viertel der Befragten in besagten SoMe-Gruppen gerne sowas wie „Jeg bor tre år/siden 2007 i Norge og snakker flytende.“

Ort-vor-Zeit. Fehlende Präposition beim Zeitraum. Und am schlimmsten: In einer Satzkonstruktion mit „[i] tre år“ oder sogar „siden 2007“ noch „jeg bor“ zu sagen, wenn man in jedem Sprachkurs spätestens in der fünften Stunde gelernt hätte, dass man hier das Perfektum braucht und das Präsens schlicht falsch ist, ist halt auch nur mittelgeil und zeigt keine herausragende eigenständige Lernfähigkeit. Mit einem guten Sprachkurs würdest du solche Anfängerfehler nicht länger als tre måneder machen, erst recht nicht 20 Jahre.

Es braucht niemandes Ziel sein, einwandfrei perfekt und fehlerlos zu sprechen. Aber nur krumme Sätze, falsche Zeitformen und vertauschte Endungen lassen einen jetzt auch nicht sooo respektabel dastehen im, ich sag mal beispielhaft, neuen beruflichen Umfeld nach der Auswanderung. Man möchte ja nicht nur verstanden, sondern auch ernstgenommen werden, und gute Grammatik trägt dazu bei – besonders, wenn man schon lange vor Ort ist. Insbesondere die Skandinavier korrigieren dich nicht und werden deine Fähigkeiten stets bewundernd kommentieren. Sei also eher kritisch, was ein „Fließend“-Lob aus deren Mund in Wirklichkeit bedeutet.

Heißt: Neben „fließend“ – was auch immer du darunter verstehst – sollte durchaus auch „einigermaßen korrekt“ dein Ziel sein, wenn du eine Sprache zum Auswandern lernst. Und das erreichen eben die wenigsten Erwachsenen ohne strukturierte Grammatikerklärungen, -übungen und -training, wie du hier lesen kannst.

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